Alle recht freundlich - Toxic Positivity

Bitte alle recht freundlich – Toxic Positivity

Als ich neulich bei ALDI war, um diese sündhaft guten veganen Fischstäbchen zu kaufen*, fiel mein Blick auf einen dort in der Ladenmitte zusammengerumpelten Haufen Aktionsware. Genauer gesagt auf ein Schlüsselbrett mit der Aufschrift „A smile is the prettiest thing you can wear.“ Und ich wollte laut schreien. Oder etwas anzuzünden. Oder laut schreiend etwas anzünden. Warum? Weil mir diese allseits in Handfont-Sinnsprüchen hingeschnörkelte Toxic Positivity höllisch auf die Lunte geht. 

Was ist Toxic Positivity?

Für „Toxic Positivity“ gibt es unglücklicherweise keine wirklich gute deutsche Entsprechung. Am besten kann man es vielleicht mit „sehr ungesunde positive Einstellung“ bezeichnen. 

Gerade Instagram ist voll von Goodvibes-Hashtags und Postings, in denen Gefühle bewertend und ganz binär in „gut“ „schlecht“ aufgeteilt werden. Focus on the good things und so. Aber was genau ist denn jetzt so schlimm daran?

Natürlich ist es schön, wenn Menschen lächeln. Aber ein Lächeln ist nicht das „prettiest thing you can wear.“  Es ist nur für viele Menschen das bequemste „thing you can wear“ – denn mit lächelnden Menschen muss man keine komplizierten Gespräche führen. Man kann sich thematisch schön entspannt zwischen dem Wetter und der aktuellen GNTM-Folge einpendeln. Easy stuff. Positives Denken und Handeln macht die Welt so viel angenehmer, so weichgespült, leicht verdaulich und geschmeidig.

Und erst kürzlich schrieb die schreckliche Zeitung mit den vier Buchstaben wieder schlauscheißernd daher, dass man sich im Lockdown mit positivem Denken vor Depressionen schützen könnte. Therapeuten hassen diesen Trick. 

Dare to be Heulsuse.

Das Problem: Unsere Gefühle sind keine Entscheidung. Und erst recht keine Konstante. Sie ändern sich, manchmal von einer Sekunde zur anderen. Und das ist okay. Es ist okay einen guten Tag zu haben und zu lächeln. Es ist aber auch okay, einen schlechten Tag zu haben. Und zu weinen. Ja, es ist okay zu weinen, auch für DICH. Wegen allem. Oder wegen nichts Bestimmtem. Einfach mal so. In Germany we call it Weltschmerz and I think that’s beautiful. Dare to be Heulsuse. Es ist schön, wenn man sich gut fühlt. Es ist aber auch okay, sich ziemlich beschissen zu fühlen. Nicht nur „mal“. Das darf auch länger dauern. Es darf wehtun und deswegen ist man weder ein schlechter Mensch noch unansehnlich, lebensunfähig oder gar an seinem Elend selber schuld.

Manche vermeintlich „negativen“ Gefühle wie Wut oder Trauer gehören zu einem Heilungsprozess, der nach manchen Schicksalsschlägen unabdingbar ist. Diesen Gefühlen ihren Raum zu verwehren, weil sie für andere sperrig, unangenehm, zu kompliziert und nicht „pretty“ genug sind, ist gefährlich und führt zu verhärtetem Ballast ganz tief im Herzen. Don’t do it. 

„Crying releases stress hormones. Swearing increases pain tolerance. Anger motivates us to solve problems. Silence and smiles aren’t the only way to respond to pain. Sometimes it is good to howl.“

Matt Haig

Darüber hinaus: „Focus on the good things“ ist eine sehr privilegierte Sicht der Dinge. Es ist einfach, sich auf die schönen Dinge zu konzentrieren, wenn es viele schöne Dinge im Leben gibt. Aber nicht jedes Problem ist eine „spannende Herausforderung“ oder gar ein „Zeichen des Universums“ (by the Wegesrand glaube ich, dass wir kleinen Würmchen hier dem großen Universum ziemlich egal sind). Manchmal passieren beschissene Sachen und dann darf man sie auch als solche bezeichnen. Positives Denken ist nicht der immer passende, magische Schlüssel zu einem besseren Leben. Nicht jeder Schicksalsschlag birgt etwas Lohnendes und Besonderes in sich. Manche Dinge können Menschen zerbrechen lassen. Das ist die Wahrheit.

All emotions are beautiful.

Irgendeine höhere Macht hat uns mit einem breiten Sortiment an Emotionen ausgestattet. Wie vielschichtig diese sind, durfte ich während meiner Therapie erkennen. Gefühle genau zu analysieren und ihre verschiedenen Sedimentschichten voneinander zu trennen war in meinem Fall ein großer Teil der therapeutischen Arbeit. (Fun Fact an dieser Stelle: Hinter dem Gefühl der Wut steckt oft etwas ganz anderes.). Ich finde all diese Gefühle sehr, sehr schön, denn sie zeigen mir, dass ich lebe. Dass ich mehr bin als ein zusammenpappender Zellhaufen. 

Emotionen bewusst wahrzunehmen, sie zuzulassen und ihnen nachzuspüren ist eine Form der Selbstliebe. Selfcare bedeutet eben nicht nur, ein heißes Bad zu nehmen, Duftkerzen anzuzünden und schön instagrammable neben einem Räucherstäbchen zu meditieren. Selfcare bedeutet auch, Emotionen ihren Raum zu geben und ihnen auf den Grund zu gehen. Auch Wut, Neid und Angst anzuerkennen. Emotionen sind Informationsträger, die uns von dem berichten, was uns beschäftigt und berührt. 

Dinge positiv zu sehen und zu lächeln darf nicht die einzige Strategie sein, die wir im Umgang mit unserer vielfältigen emotionalen Welt haben. „Good Vibes Only“ bringt niemanden weiter. Glücklichsein ist leider keine simple Entscheidung sondern Arbeit, die auch erfordert, sich mit unbequemen Emotionen auseinanderzusetzen. 

Und um nochmal auf den Spruch auf dem Schlüsselbrett zurückzukommen: Wer weint, wird deswegen kein hässlicher Mensch. Habt ihr schon mal einen Menschen gesehen, der weint? Ein Freund oder eine Freundin, der/die euch vertraut, so sehr vertraut, dass er/sie sich in eurer Gegenwart öffnet und den Tränen freien Lauf lässt? Wie wunderschön sind Menschen in diesem Moment, in dem sie so verletzlich und so offen sind?

Ich hoffe, dass das Schlüsselbrett ein Ladenhüter bleibt. Kauft lieber die veganen Fischstäbchen*. Die bringen mich jedenfalls immer ganz hübsch zum Lächeln.

Schlüsselbrett of Doom

Nope. Just Nope.


*Disclaimer: Das ist keine bezahlte Werbung, ALDI gibt mir keinen Cent dafür, dass ich hier erzähle wie sündhaft gut ihre veganen Fischstäbchen sind. Eigentlich eine Frechheit.