Titelbild Irrtümer über Depressionen

Fake News – Irrtümer über Depressionen

Immer wieder, wenn ein*e Prominente*r sich zu einer Depressionserfahrung bekennt oder wenn der traurige Suizid eines in der Öffentlichkeit stehenden Menschen beklagt wird, schwappen die Kommentarspalten (von denen ich bekanntlich wenig halte) über vor lauter schlauscheißernden Kommentaren. Die kommen meist von Leuten, die mit einer Depression bisher offenbar so viele Berührungspunkte hatten wie ich mit einem tiefergelegten Segway-Gefährt (bislang keine).

Dabei denke ich nicht, dass diese Aussagen aus böser Absicht getätigt werden, denn ich glaube, dass der Mensch im Grunde gut und herzlich ist. Wenn man ihn lässt. Das ändert nichts daran, dass so manche dort steil geäußerte These Betroffene verletzen kann und dazu führt, dass ein falsches Bild von psychischen Erkrankungen gezeichnet wird.

Depressionen sind eine Geschichte voller Missverständnisse. Deswegen sollte viel mehr darüber gesprochen werden. Ich fang mal an:

1. „Depressionen haben ja immer eine ganz klare Ursache.“
Manchmal. Ja. Plötzliche traumatische Erfahrungen. Verlust. Trennung. Ein Todesfall. All das kann eine Depression auslösen. Nicht in allen Fällen können Erkrankte jedoch die Geburtsstunde ihrer Depressionen genau beziffern oder alles auf ein ganz konkretes Ereignis oder Lebensumstand zurückführen. Oft kommen diese dunklen Emotionen tatsächlich erstmal aus dem vermeintlichen Nichts, sind hormonell oder sogar erblich bedingt oder setzen sich aus zahlreichen Versatzstücken zusammen. Viele Menschen mit Depressionen wundern sich anfangs regelrecht über ihre bedrückte Stimmung, denn augenscheinlich ist in ihrem Leben doch alles in Ordnung. Herauszufinden, woher die düsteren Gedanken rühren und an welchen Lebensstellschrauben gedreht werden muss, um den Zustand zu verändern, erfordert viel Arbeit. Meist sind es viele unterschiedliche Faktoren, die die Entstehung einer Depression begünstigen und möglich machen.

2. „Wer Depressionen hat ist immer traurig.“
Menschen mit Depressionen können an ihrer Krankheit leiden und trotzdem in der Lage sein, einen lustigen Abend mit Freunden zu genießen. Denn Depressionen haben viele Gesichter. Und Traurigkeit ist nur eines davon. Während meiner depressiven Phasen erlebte ich Gefühlsausbrüche, die in ihrer Vielfalt von Lethargie über Euphorie, bis hin zu Angstattacken und Aggressionen reichten. Manchmal lässt sich die Traurigkeit da noch am leichtesten aushalten. Der Gefühlscocktail ist komplex und auch für Betroffene selber oft kaum berechenbar. Zu lernen, Emotionen zu ergründen, sie zu lesen und rational zu betrachten nahm einen großen Teil meiner Verhaltenstherapie ein.

3. „Wer Depressionen hat, muss sich nur ablenken.“
Depressionen sind nicht nur irgendsoein Gefühl. Sie manifestieren sich in neurochemischen Prozessen im Gehirn und sind somit auch in manchen Fällen nachweisbar. Sie sind psychisch und physisch da und sie verschwinden nicht, weil man die ersten vier Teile von „Police Academy“ hintereinander guckt und dabei ein bisschen lacht. Ich weiß das, weil ich das tatsächlich mal getestet habe.

Ich halte Ablenkung in depressiven Phasen sogar in den meisten Fällen für falsch, denn meist neigt man dazu, sich in diesem Zustand eine sehr ungesunde Art der Ablenkung zu suchen. Been there. Done that. Ich scheine da Matt Haig an meiner Seite zu haben:

„Weird how things that compulsively distract a mind from feeling shit – alcohol, drugs, gambling, porn, affairs, eternal online scrolling etc – make a mind feel more shit. In order to feel less shit, you eventually have to face your shit rather than hide it with more shit.“

4. „Depressive Menschen sind charakterlich schwach.“
Ja, diesen ausgemachten Quatsch glauben tatsächlich immer noch locker 30 Prozent der Menschen in diesem Land.

Man muss verdammt stark sein, um eine Depression auszuhalten. Solange man es niemandem erzählt, merkt es nämlich keiner. So gut spielen Depressive ihre Rolle, jeden Tag, überall. Ja, wir sind talentierte Schauspieler und viele von uns verlassen das im Drehbuch vorgeschriebene Verhalten erst, wenn sie das mentale auf-das-Kantholz-beißen nicht mehr aushalten. Weil das mit dem Zusammenreißen leider nicht mehr geht, weil man das leider schon viel zu lange getan hat.

Auch eine Therapie ist kein lustiger Kaffeeklatsch auf Krankenkassenkosten. Es ist allzu oft ein wöchentlicher Tauchgang in den dunklen und mysteriösen Marianengraben des eigenen Selbst. Und ja, da unten sieht man schreckliches Getier, dem man eigentlich lieber nicht begegnen wollte. Da runter zu gehen, dahin, wo es so dunkel und unbekannt ist – und dann auch noch darüber zu reden! – das trauen sich nur die wirklich Starken! You won’t dare to try!

5. „Man kann eine Depression mit der eigenen Einstellung beeinflussen.“

Diese Aussage hat sicherlich schon jeder von Depressionen betroffene Mensch in irgendeiner Form gehört. Sie verpackt sich auch gern in Formulierungen wie „Du musst nur mal positiv denken/Sport machen/an die Luft gehen!“. Sie ist die verletzendste die ich kenne. Sie unterstellt Betroffenen eine klare Mitschuld an ihrer Erkrankung. Ja, es ist möglich, sich ausgewogen zu ernähren, genug zu trinken und Sport an der frischen Luft zu machen, um damit auch einen Beitrag zur psychischen Gesundheit zu leisten. Aber diese hochgejubelten Selbstheilungskräfte von Körper und Seele haben ihre Grenzen. In meinen schlimmsten depressiven Phasen war ich mit der Frage überfordert, wie ich das mit dem Duschen hinbekommen und welche Hose ich danach anziehen sollte. Einem solchen Menschen zu sagen, er/sie solle doch einfach mal ein bisschen vor die Tür gehen um sich besser zu fühlen, ist respektlos und schießt kurativ am Ziel vorbei.

Wer krank ist ist krank. Krankheit ist nie eine persönliche Entscheidung oder Schuld. End of Story.

6. „Heutzutage ist doch jeder depressiv, das gab es früher alles nicht.“

Doch, Jochen, auch früher gab es Menschen mit Depressionen. Aber sie haben nicht so offen darüber geredet wie heute, weil so emotional beschränkte Leute wie du ihnen viel zu lange ihre Krankheit abgesprochen haben. Heute trauen sich zum Glück mehr Betroffene, offen mit dem Thema Mental Health umzugehen. Es gab diese Menschen schon immer. Sie werden nur endlich sichtbar. Und das gilt auch für andere Bereiche, in denen unsere Gesellschaft zum Glück endlich einen Wechsel der Werte und Paradigmen erfährt. Feminist*innen. Queere Menschen. People of Colour. Menschen mit Behinderung. Sorry, das dich das alles so nervt, Jochen, hier ist ein Trostlolli.

7. „Die/der hat ja nun wirklich keine Gründe, depressiv zu werden!“
Niemand muss sich für eine Depression qualifizieren. Gerade wenn sich prominente Menschen zu einer Depression bekennen, ereifern sich Leute in den Kommentarspalten darüber, dass es dem/derjenigen ja nun wirklich gut gehe, er/sie doch alles habe und auf einem so hohen Niveau um Aufmerksamkeit herumjammert. Dabei wäre es viel wichtiger, diese ernsthafte Botschaft dahinter zu erkennen: Depressionen können jeden treffen. Auch (erfolg)reiche Menschen. Schöne Menschen. Mächtige Menschen. Promis. Royals. Fußballprofis. Es gibt keine Checkliste, die man abhaken und abarbeiten muss, um dann von einer Kommentarspaltendelegation einen Darfschein ausgestellt zu bekommen, der zum Ausführen der Depressionserkrankung berechtigt. So funktioniert das nicht. Dieser Punkt regt mich so unglaublich auf, dass ich ihm demnächst nochmal einen längeren Text widmen möchte.

Ich weiß, dass sich trotz allem diese Irrtümer, Missverständnisse und Stigmata sicherlich noch sehr lange halten werden. Aber sie werden weniger. Die Menschen, die ihnen widersprechen und diese Falschbehauptungen richtigstellen, werden mehr. Und generell gilt ja eh: Wenn man von einem Thema nicht mindestens indirekt betroffen ist, sollte man argumentativ erstmal den Ball etwas flacher halten, die Menschen zu Wort kommen lassen, die mehr Erfahrungen auf dem entsprechenden Gebiet haben und erstmal ein bisschen zuhören. Wenn wir das begreifen, sind wir mit unserer Gesellschaft auch schon ein ganzes Stück weiter.