Languishing, Lockdown & Meh

Languishing, Lockdown & Meh – oder: Der Verlust des emotionalen Kompasses

Seit Beginn der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Maßnahmen erleben viele Menschen eine emotionale Welt, die sie bisher bei sich selbst nicht kannten: Konzentrationsschwäche. Fehlende Begeisterung. Langeweile. Rückzug. Innere Leere. Erschöpfung. Oder kurz gesagt: Meh.

Dinge, die mal Freude bereitet haben, lassen uns plötzlich kalt. Wir liegen bis Mittags im Bett um mit ausgehängtem Blick durch irgendeinen Social Media-Feed zu scrollen. Manche haben sich seit Wochen keine Hose angezogen und diese Tatsache ist ihnen auch herzlich egal. Der einzige Sozialkontakt entsteht beim Entgegennehmen der Lieferando-Pizza. Die Tage matschen konturlos ineinander über und wir wursteln uns durch die Zeit, von der wir nicht genau wissen, wann und ob und wie sie enden wird.

Gefühle werden greifbarer, wenn man ihnen einen Namen gibt. Der Soziologe Corey Keyes benennt das allgemeine Phänomen der Coronaerschöpfung darum mit dem Begriff Languishing. In einem kürzlich veröffentlichten und lesenswerten NY Times Artikel von Adam Grant beleuchtet er einen Zustand, der sich in einem Niemandsland der psychischen Gesundheit befindet.

Languishing beschreibt keine Depression, keine psychische Erkrankung, keine Diagnose, sondern vielmehr „the absence of well-being“ – das Nichtvorhandensein von Wohlbefinden. Es manifestiert sich in Antriebslosigkeit, Gleichgültigkeit und emotionaler Leere – Symptome, die viele gerade in dieser Form zum ersten Mal erleben.

Das Problem an Languishing: Es kommt schleichend und kann die Vorstufe zu einer Depression sein. Oft merken Betroffene nicht, dass sich ihr Befinden immer mehr zum Negativen verändert. Oder sie spielen ihr seelisches Leiden herunter – immerhin ginge es allen anderen gerade ja genauso, man wäre ja nicht der einzige und eigentlich hätte man ja gar keinen Grund, so weinerlich vor sich hinzujammern.

Und auch ich spüre dieses Languishing, diese Lethargie, diese negative Ruhe, die sich wie eine kriechende Bleidecke auf alles legt. In 5 Jahren Verhaltenstherapie habe ich meine emotionale Welt sehr genau kennengelernt. Ich habe gelernt, Gefühle genau zu benennen, sie auseinander- und wahrzunehmen, ihnen Raum zu geben. Zu begreifen, dass ich meiner emotionalen Wahrnehmung immer bedingungslos vertrauen kann, war eines der wichtigsten Erkenntnisse in dieser Zeit. Meine Gefühle wurden zu meinem inneren Kompass, der mir zeigte, ob das, was ich tat, gut oder schlecht für mich war.

Momentan steht dieser innere Kompass still. Ich empfinde wenig Freude, wenig Leidenschaft für die Dinge, die ich tue. Es ist nicht das gleiche Gefühl wie in der Depression, aber es ist sehr unangenehm vertraut.

Was aber hilft gegen Languishing?

Corey Keyes nennt als Hilfe gegen Languishing einen Zustand, den er als „Flow“ bezeichnet. Dieser Begriff wird gerne von Entrepreneur-Produktivitätsmonstern verwendet, um den Zustand zu beschreiben, in dem man gar nicht mehr mitbekommt, dass 12 Stunden Arbeit am Stück ohne einen einzigen Toilettengang vergehen.

Mood is influenced most not by success or failure, but by the rate of progress towards a goal.“
Randolph M. Messe, „Good Reasons for Bad Feelings: Insights from the Frontier of Evolutionary Psychiatry

Aber „Flow“ muss nicht unbedingt an eine vermeintlich „produktive“ Tätigkeit gekoppelt sein. Ein Flow lässt sich auch erleben während man einen Film guckt, eine inspirierende Unterhaltung führt oder eine komplette Staffel der Lieblingsserie einatmet. Ich erlebe Flow momentan u.A. beim Lesen oder beim Training. Ein Flow erzeugt Emotionen, reißt mit, schenkt mehr Energie als er abzieht. Ein Flow ist keine Ablenkung, er erfordert und ermöglicht Konzentration und ungeteilte Aufmerksamkeit und kann so dazu beitragen, kleine Fortschritte und Erfolgserlebnisse zu erzielen.

Das Problem dabei: Wenn sich die schwere Languishing-Decke auf alles legt, ist es schwer in einen Flow zu kommen.

Darum ist es wichtig, darüber zu reden. Nahezu jede*n belastet die Situation momentan in irgendeiner Form. Sich darüber auszutauschen ist wichtig. Reden wir über die Angst und den Kontrollverlust, den wir momentan erleben. Über die Ungewissheit. Über Existenz- und Verlustängste und über Sehnsucht. Und vielleicht schaffen wir das auch ohne den harten, vermeintlich schützenden Panzer aus Wut und Zynismus. In einer Zeit, die immer mehr Gräben und Furchen in unsere Gesellschaft schlägt, ist vielleicht genau das etwas, was uns zusammenhält. Die Erkenntnis, in einer bedrückenden Situation nicht allein zu sein, kann Betroffenen helfen, sich besser und verstanden zu fühlen. Gerade jetzt, wo es an räumlicher und körperlicher Nähe fehlt, ist die seelische und gedankliche Nähe umso wichtiger. Wir sollten lernen, Dialoge zu führen, die über „Gut, danke, und dir?“ hinausgehen und uns von Toxic Positivity verabschieden. Vielleicht ist jetzt die beste Zeit dafür.

Diese Pandemie ist eine Zäsur in Bezug auf unsere Gesundheit – unsere körperliche, aber auch unsere seelische. Unser Wohlbefinden ist – wie so viele andere Dinge auf dieser Welt – kein binäres System. Zwischen „gesund“ und „krank“ gibt es viele Abstufungen, denen wir Beachtung schenken sollten. Languishing befindet sich in so einer Grauzone. Name it and talk about it.