Queer Reading

Lesetipps zum Pride Month: Queer Reading

Juni ist Pride Month. Es ist diese Zeit im Jahr, in der Unternehmen, Institutionen und Parteien sich selbst und ihre Produkte gern mit einem quirligen Regenbogen schmücken um dann für den Rest des Jahres dafür zu sorgen, dass diskriminierende Gesetze und Strukturen weiterhin bestehen bleiben.

Ausgedacht hat sich das Ganze aber keine hippe Werbeagentur. Der Pride Month geht zurück auf eine der damals zahlreich und willkürlich stattfindenden Polizeirazzien in der New Yorker Schwulenbar „Stonewall Inn“ in der Christopher Street. Homosexualität galt zu diesem Zeitpunkt vor dem Gesetz noch als Straftat und bei den Zusammentreffen von Polizei und Barbesucher*innen kam es regelmäßig zu heftiger Polizeigewalt und -schikane. Am 28. Juni 1969 wehrten sich die Menschen im „Stonewall Inn“. Lange Straßenschlachten waren die Folge, Dragqueens, trans Menschen und Quere PoC gingen auf die Straße um lautstark das einzuläuten, was heute als Wendepunkt im Kampf um Gleichberechtigung bezeichnet wird. Stonewall was a riot. 

Der Pride Month ist also kein buntes Werbehappening sondern eine Ehrung an all die queeren Menschen, die um ihre Rechte gekämpft haben und es leider immer noch tun müssen. Und es ist die Aufgabe einer solidarischen Gesellschaft, ihre Wissenslücken zu schließen und diesen Kampf zu unterstützen. Deswegen habe ich pünktlich zum Pride Month ein paar ganz famose Bücher famoser queerer Autor*innen zu LGBTQIA-Themen zusammengestellt. Kauft sie, lest sie, verschenkt sie.

Linus Giese – Ich bin Linus

Linus Giese „Ich bin Linus“

Es gibt wenige Non-Fiction-Bücher, die ich derartig schnell eingeatmet habe wie „Ich bin Linus“ von Linus Giese. Das liegt zum einen daran, dass ich Linus schon länger auf Twitter, Instagram und seinem Blog folge und sein Buch in freudiger Erwartung vorbestellt habe sobald es gelistet war. Zum anderen liegt es an Linus’ bewundernswert ehrlichen und gefühlvollen Art, mit der er in diesem Buch von seinem Leben als trans Mann und all den damit verbundenen Höhen und Tiefen berichtet. In einer Welt, in der jeder Mensch immer noch zwanghaft in ein binäres Geschlechtersystem einsortiert werden muss, braucht es viel mehr laute Stimmen genderqueerer Menschen, deren Geschichten Horizonte erweitern und Betroffene zum Gehen des eigenen Weges ermutigen. Und es braucht Solidarität und Verständnis von Freunden und Angehörigen, damit Menschen aus dem trans Spektrum einen Rückhalt in starken und solidarischen Allies haben. Linus Giese hat mit seinem lehrreichen und wichtigen Buch einen enormen Beitrag dazu geleistet. Ganz viel Liebe dafür.

Angelo Surmelis „The Dangerous Art Of Blending In“

My mother leans in, looks right at me, and lowers her voice to a hush. „Die. If this is who you are.“

Evan ist 17 und lebt mit seinen aus Griechenland eingewanderten Eltern in einer Kleinstadt im US-Staat Illinois. Seine Mutter ist gewälttätig, gottesfürchtig und herrschsüchtig, sein stiller Vater flüchtet sich dagegen ständig in seine Arbeit. Evan bleibt meist allein mit dieser emotionalen Kälte, mit seiner Sehnsucht nach Nähe und mit der zärtlichen Zuneigung, die er im Geheimen für seinen besten Freund Henry empfindet. Eine Coming-of-Age-Geschichte, in der der Autor Angelo Surmelis seine eigenen Erfahrungen mit Homosexualität, Missbrauch und dem Aufwachsen als Immigrant in den USA authentisch und voller Sogwirkung verarbeitet hat. Ich hab das Buch ab Seite 100 nicht ein einziges mal mehr weggelegt. 

Leider ist es offenbar aber (noch) nicht auf deutsch erhältlich.

The Dangerous Art Of Blending in
If I Was Your Girl

Meredith Russo „If I Was Your Girl“

Amanda ist 18 und trans. Sie konnte schon in jungen Jahren körperliche Angleichungen durchführen lassen und lebt nun stealth (in der Öffentlichkeit nicht als trans geoutet) bei ihrem Vater in Tennessee. Zum ersten Mal erlebt sie dort ein Leben ohne Ausgrenzung und Mobbing. An der Highschool und bei ihren Freunden ist Amanda beliebt. Doch immer wieder stellt sie sich die Frage, ob dies auch der Fall wäre, wenn ihr Umfeld von ihrem trans Weg wüsste. Als sie Grant kennenlernt und sich in ihn verliebt, möchte sie ehrlich sein, fragt sich jedoch ob sie ihm wirklich vertrauen kann. Und auch ihr Vater scheint mit dem Weg seiner Tochter nicht so wirklich zurechtzukommen…
Amanda ist sich ihrer Identität und ihrer selbst so sehr bewusst, wird aber immer wieder durch ihr Umfeld verunsichert. „If I was your Girl“ ist ein Jugendroman, dessen Handlung verddeutlicht, wie viele Probleme für trans Menschen erst durch ein heteronormatives cis Umfeld entstehen. 

Meridith Russo lässt ihre eigenen Erfahrungen als trans Frau in ihre Bücher einfließen. In deutscher Sprache ist dieser Roman unter dem Titel „Als ich Amanda wurde“ erhältlich.

Andreas Steinhöfel „Die Mitte der Welt“

„Die eigene Wahrnehmung schärft sich, wenn man Vertrautes durch die Augen eines anderen betrachtet.“

Phil und seine Zwillingsschwester Dianne führen gemeinsam mit ihrer Mutter Glass ein Außenseiterleben jenseits der Normalität und sind ein Dorn im Auge der „kleinen Leute“ und ihrer dörflichen Spießermentalität. Phils Liebe zu dem etwas älteren Nicholas steht im Zentrum des Romans, ohne die Homosexualität – wie es in Coming-of-Age-Geschichten häufig der Fall ist – zu einem zentralen Problemthema zu machen. Die Beziehung zwischen Phil und Nicholas wird mit einer wunderbar leichten Selbstverständlichkeit gezeichnet und kommt ohne dramatische Outingszenen oder andere Stereotype aus. 

„Die Mitte der Welt“ von Andreas Steinhöfel wurde bereits 1998 veröffentlicht und gilt als Klassiker der Jugendliteratur. Die Geschichte bricht nicht nur mit dem bis heute gepredigten Bild des klassischen Familienkontruktes (Vater-Mutter-Kind) sondern bringt auch unaufgeregt Themen wie Geschlechterrollen, Queerness und die Suche nach der eigenen Identität auf die Bühne. Ein ganz tolles und intensives Leseerlebnis, auch für Erwachsene.

 

Die Mitte der Welt
Girl Mans Up - M-E Girard

M-E Girard „Girl Mans Up“

“I don’t feel wrong inside myself. I don’t feel like I’m someone I shouldn’t be. Only other people make me feel like there’s something wrong with me.”

Pen ist 16 und das Leben bei ihren konservativ-religiösen Eltern führt immer wieder zu Konflikten und kräftezehrenden Diskussionen. Pens Leben, ihre Hobbys und Vorlieben liegen jenseits der mütterlichen Vorstellungen davon, wie eine junge Dame eigentlich gefälligst zu sein hätte. Während Pen dennoch versucht, ihren Eltern immer respektvoll gegenüberzutreten und ihren Wünschen so gut sie kann zu entsprechen, wird das Verhalten der Eltern Pen gegenüber jedoch immer respektloser. Als sich Pen auch noch in eine Frau verliebt, sieht sie keine andere Möglichkeit, als mit ihren Eltern zu brechen und ihren eigenen Weg zu gehen.

„Girl Mans up“ von M-E Girard war einer meiner Buchfunde in der wunderbaren New Yorker Buchhandlung „The Strand“ und soweit ich weiß ist es leider (noch) nicht auf deutsch erschienen.

Juno Dawson „This Book is Gay“ & „Gender Games“

„I just can’t really see ANYONE enjoying the male and female ideals we’ve wound up with. Women exhausted from being patronised, harassed and overlooked; men weary from the weight of masculine expectation, tight-jawed from holding emotion back; trans and non-binary people ground down from justifying their place at the table, just trying to get through the day. No one, just no one is winning.“

Wer auf der Suche nach feiner queerfeministischer Sachliteratur ist, sollte sich die Bücher von Juno Dawson ansehen. Mit ganz viel – oft bissigem – Humor, eigenen Erfahrungen und auf den Punkt gebrachten Argumenten setzt sie sich in „Gender Games“ und „This Book Is Gay“ mit den verschiedenen Spektren des queeren Daseins, mit stereotypen Geschlechterbildern und der homo- und transfeindlichen Gesellschaft auseinander. „This Book Is Gay“ wurde – zumindest in der englischsprachigen Fassung – auch kürzlich für eine aktualisierte Neuauflage inhaltlich und gestalterisch überarbeitet, auf dem Foto seht ihr noch die alte Ausgabe. Die deutsche Ausgabe heißt „How to be Gay“. Von „Gender Games“ gibt es leider meines Wissens nach (noch) keine deutsche Übersetzung. Ach ja, und Juno Dawson schreibt übrigens auch sehr erfolgreiche Jugendromane.

Juno Dawson Books
I am J - Cris Beam

Cris Beam „I Am J“

Ein weiterer Young-Adult-Roman zum Thema Transgender: J ist ein Teenager voller Selbstzweifel, versteckt sich selbst in zu großen Klamotten und verliert sich in Ablehnung und Selbsthass. Von seinen Eltern und seiner besten Freundin erfährt er keine Unterstützung. Mit der Pubertät ist er überfordert, es fühlt sich an als richte sich plötzlich sein eigener Körper gegen ihn. J fällt es schwer, die Dinge, die in ihm vorgehen in Worte zu fassen. Bis J schließlich begreift, dass er trans ist. Die Erkenntnis darüber bringt für ihn zwar Licht ins Dunkle, fordert aber auch ihre Konsequenzen… 

„I am J“ beschreibt die Reise eines trans Jungen zu sich selbst und liefert einen greifbaren Einblick in Kopf und Herz betroffener Menschen. Ich fand das Buch sensationell gut, weiß aber, dass sich viele an den wirklich ausführlichen (und triggerlastigen) Schilderungen von Js depressiven Gedanken stören.

Alex Gino „George“

George ist 10 Jahre alt und weiß, dass sie ein Mädchen ist. Leider wissen das die anderen Menschen nicht und George weiß auch nicht so recht, wie sie sich offenbaren soll. Als an ihrer Schule ein Theaterstück aufgeführt werden soll, bemüht sich George um die weibliche Hauptrolle, stößt jedoch bei ihrer Lehrerin auf Unverständnis. Zum Glück gibt es Kelly, die George als beste Freundin ermutigend zur Seite steht… 

„George“ von Alex Gino ist der erste Kinderroman zum Thema Transgender. Mit viel Fingerspitzengefühl und ermutigenden Worten bietet die Geschichte von George einen Einblick in die Seele und die Bedürfnisse eines Kindes, das anders denkt und fühlt. Themen wie Geschlechterrollen, Mobbing und Solidarität werden auf kindgerechte Art beleuchtet. Ich habe dieses Buch sehr, sehr geliebt und ganz schnell weggesnackt. 

George - Alex Gino
Darling Days – iO Tillett Wright

iO Tillett Wright „Darling Days“

„I have absolutely no tools to deal with any such things. I have been raised like a gladiator, to fight and be strong, to weather storms and survive onslaughts. But I was never taught that you are born fragile. I think of it as a failure. This is my failure.“

iO Tillett Wright wird 1985 in New York City in einem unkonventionellen, quirligen und chaotischen Umfeld geboren. Schon früh merkt iO, dass Grenzen zwischen den Geschlechtern fließend sind und die allgemeinen Vorstellungen einer heteronormativen Gesellschaft nicht immer erfüllt werden können und sollten. Dabei ist das Buch aber nicht nur eine explizit queere Geschichte.

„Darling Days“ ist so unglaublich viel. Es ist ein poetisches, intimes und persönliches Buch über die eigene Identitätsfindung und über die Frage, wer oder was man sein möchte, sein darf und werden kann. Es ist ein lebhaftes und stimmungsgeladenes Porträt des rohen New Yorks der 80er und 90er Jahre (ich hatte New York noch nie beim Lesen so bildlich vor Augen, ich könnte schwören, ich war übers Wochenende dort). Und es ist ein Einblick in eine Gesellschaft voller Klassenunterschiede, in der eben doch nicht jeder Mensch die gleichen Chancen hat. Zusammengehalten werden all diese Stränge von iOs bedingungsloser Liebe zur Mutter – die leider immer wieder und viel zu oft an sich selbst und dem Leben scheitert.

Lest dieses Buch. Wirklich. Es packt so sehr ans Herz wie es nur wirklich wenige Bücher können.

…und normalerweise schreibe ich nur über Bücher, die ich mag und die mir gefallen. Aber das folgende halte ich – trotz aller schriftstellerischer Großartigkeit die der Autor John Boyne sonst besitzt – einfach für so schlecht, falsch und gefährlich, dass es erwähnt werden sollte (zumal es in vielen Buchhandlungen in der LGBTQIA-Ecke steht): In „My Brother‘s Name Is Jessica“ berichtet der 13jährigen Sam vom Leben mit seiner trans Schwester Jessica. Allerdings folgen jetzt 6 Dinge, die ich an diesem Buch ganz, ganz schrecklich fand und die klar machen, warum man es nicht lesen sollte (wirklich nicht, nein!):

  • Deadnaming und Misgendern am laufenden Band. Auch nach ihrem Comingout wird über Jessica weiterhin respektlos und ignorant mit männlichen Pronomen/Vornamen gesprochen. Schon der Titel lässt das erahnen, ich hoffte aber, dass es sich hier um irgendeine verunglückte Meta-Nummer handeln würde…
  • Es geht in dieser Geschichte kaum um den trans Charakter Jessica, sondern in erster Linie um die Gedankenwelt der kleingeistigen cis Familienmitglieder und um ihre hoffnungslose Überforderung mit dem Thema, das ihre Tochter beschäftigt.
  • Die straighte Lovestory des 13jährigen Erzählers, die Karriere der politisch ambitionierten Mutter und die transfeindlichen Ansichten des dulligen Familienvaters werden intensiv von allen Seiten beleuchtet. Jessica dagegen verschwindet nach einem Familienstreit voller Beleidigungen, psychischer und körperlicher Gewalt einfach von der Bildfläche zu ihrer freakigen Tante aufs Land. Ihre Emotionen und inneren Konflikte finden kaum Erwähnung.
  • Jessica erhält in dieser Geschichte kaum Präsenz. Sie wird von cis Personen (ihrem Fußballtrainer, einem Psychiater, ihrer Tante) bevormundet. Sie selbst redet wenig, dafür sprechen andere für sie. Soll wohl Solidarität ausdrücken, erwirkt aber den Eindruck, als spräche Jessica als trans Mädchen eine unverständliche Sprache. Zum Schluss wird Jessica in aller Öffentlichkeit ohne ihr Einverständnis von ihrem Bruder in einer vermeintlich emotional ergreifenden Szene geoutet. Ihre Reaktion auf dieses Outing findet keine Erwähnung. 
  • Trans Personen werden in diesem Buch als Menschen dargestellt, die in ihrem Umfeld nur Chaos, Verwirrung und Unruhe anzetteln. 
  • Konflikte, die während der Handlung entstehen, werden nicht aufgelöst, es gibt ein an den Haaren herbeigezogenes Happyend, bei dem sich alle in den Armen liegen und glücklich sind weil Jessica jetzt „diese Tabletten nimmt“. 

Lest es nicht. Nein. Lasst es. Bitte. Danke.


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Die Links in diesem Beitrag führen – wenn nicht anders vermerkt – zum Webshop meiner Lieblingsbuchhandlung Cohen & Dobernigg oder zu den Webseiten oder Social Media-Accounts der Autor*innen. Ich bekomme von niemandem Geld für diese Verlinkung. Ich verlinke sie einzig und allein, weil ich die dahinterstehenden Menschen und ihre Arbeit sehr schätze.