Hell, no! Über Depressionen in der Vorweihnachtszeit

Jedes Jahr – sobald Halloween vorbei ist – wenn meine Nachbarin die Plastikgrabsteine und das lebensgroße Deko-Skelett vor ihrer Haustür wieder weggeräumt hat und wenn auch der letzte Schnitzkürbis dem Komposthaufen übergeben wurde, geht sie schlagartig und allgegenwärtig los, diese „Most wonderful time of the year“.

Diese Zeit, in der jedes Musikstück, das irgendwo gespielt wird, mit diesen kleinen, lieblich scheppernden Glöckchen unterlegt ist. Diese Zeit, in der mir Social Ads auf Instagram und Facebook erzählen, es wäre völlig normal 104,99 € für einen Adventskalender mit Gewürzmischungen zu bezahlen. Diese Zeit, in der Chris Rea nach Hause fährt, in der silbrig-glänzende Klappkarten mit rührseligen Grüßen verschickt werden und in der mich immer ein bisschen das Gefühl beschleicht, jeder Mensch da draußen bereite sich auf ein glitzerndes Weihnachtsfest im Stile von „Das Wunder von Manhattan“ vor.

Für mich beginnt jetzt jedoch eher der „Nightmare before Christmas“ – um mal im cineastischen Segment zu bleiben. Es sind diese Monate, in denen ich kaum genug auf mich aufpassen kann. In denen es in jeglicher Hinsicht sehr dunkel wird und in denen ich jedes Jahr erneut mit der Geisterbahn kämpfe, die da noch immer ständig in meinem Kopf fährt – und die komplett antizyklisch erst so richtig NACH Halloween loslegt. Festhalten bitte, die nächste Fahrt geht rückwärts.



Dem Ende der Sommerzeit und dem damit einhergehenden Lichtmangel weiß ich mit den berühmten „stupid little walks for my stupid little mental health“ und einigen hochdosierten Vitamin D- und Eisenpräparaten nur bedingt etwas entgegenzusetzen.

Das Jahr steuert auf sein Ende zu und ob ich will oder nicht, man blickt zurück, man blickt nach vorn und das was ich in beiden Richtungen sehe überfordert mich so oft und so sehr, dass ich mein Gesicht einfach in meine Hände vergraben möchte um nirgendwo mehr hinsehen zu müssen. Denn was mir am Ende eines Jahres so von dieser Zeit bleibt, das weiß ich nie so wirklich. Kein Jahresrückblick, den ich jemals schreiben könnte, wäre gut genug für diese ewige kritische und dauernörgelnde Stimme in mir. Egal, womit ich mein Jahr verbracht habe: Es war nie ausreichend. Mir wird in diesen Tagen schmerzhaft bewusst, wie viel Zeit und Energie ich ständig benötige, um diese scheppernde Karre, die sich meine mentale Gesundheit nennt, geradeaus in der Spur zu halten. Zeit und Energie, die Menschen, die ohne eine rezidivierende Depression leben, für andere Dinge nutzen können. Zum Beispiel für Dinge, die dafür sorgen, dass sie jeden Absatz in ihrer Jahresretrospektive mit „Hell, yeah!“ und diversen Flammen-Emojis beenden können. Und alleine die Tatsache, dass ich das nicht kann, disqualifiziert mich vielleicht bereits für den illustren Kreis der Menschen, die Jahresrückblicke schreiben sollten. Hell, no! (Bitte hier ein Flammen-Emoji einfügen.)

Oft möchte ich in diesen Tagen einfach nur schlafen. Das mache ich auch und ich schlafe zu viel, ohne mich danach wirklich jemals ausgeruht zu fühlen. Das nasskalte Wetter und die Dunkelheit machen mich müde, da helfen auch kein Weihnachtsmarkt-Bling-Bling, kein Ugly Christmas Sweater und keine bunten Lichterketten. Meine Schlafhygiene ist jetzt in dieser Zeit quasi nicht mehr vorhanden und die Vermutung, dass diese Tatsache ausschließlich mit meiner mangelhaften Selbstdisziplin zu tun haben könnte nagt an mir wie ein von Halloween übrig gebliebenes Zombie-Eichhörnchen – denn alles ist doch immer nur eine Frage des Mindsets, oder? (Bitte hier den Kommentar eines Lifestyle-Motivations-Coaches einfügen.)



Zum Ende des Jahres werde ich wehmütig. Traurig. Manchmal gereizt. Ich spüre die Grenzen, die mir das Leben in den Monaten zuvor gesetzt hat. Ich sehe die unvollendeten Pläne, die aufgeschobenen Träume und die gedanklichen Notizen, die mit dem Wort „Irgendwann“ beginnen. Und ich spüre besonders jetzt, nach mehreren Pandemie- und Krisenjahren, meine aufgebrauchte Resilienz. Und ich weiß zeitgleich um die illusorische Vorstellung, dass sich all das schlagartig und auf magische Art und Weise mit dem Jahreswechsel ändern und bessern könnte. Denn nichts wird von alleine gut.



In solchen Momenten schreibe ich. So wie jetzt. Gieße diffuse Gedanken in die Form der Worte. Ohne zu wissen ob und ohne den Anspruch dass es jemals jemand lesen wird. Ich lese und lerne irgendwas, um meinen Kopf zu beanspruchen und mir selbst das Gefühl zu geben, etwas Sinnvolles zu tun – obwohl ich gerade echt nur auf der Couch herumliegen kann. Ich gehe laufen – obwohl ich das Laufen wirklich sehr hasse. Ich kratze alle Motivation zusammen, fahre mit dem Fahrrad ins Dojo zum Karatetraining, weil ich weiß, dass mir die Kampfkunst immer, wirklich immer, mehr Kraft gibt als sie mich kostet und mir die regelmäßigen Termine dort Struktur und Halt geben. Ich ziehe Bahnen im Schwimmbad, hin und her, hin und her. Um diesen ganzen Scheiß, der da in mir ist und der wahrscheinlich immer in mir sein wird, in kinetische Energie umzuwandeln. Energie, die ich dieser Dunkelheit entgegensetzen kann. Das klappt oft. Aber nicht immer. Manchmal bleibt das Licht in mir aus. Manchmal schaffe ich es nicht, gegen diese innere Gegenstromanlage anzurudern. Manchmal ist das „Trotzdem“ in mir nicht stark genug. Gegen Depressionen gibt es keine Wunderwaffe.

Nein, mir geht es nicht gut in diesen Tagen. Überhaupt nicht. Die (Vor)Weihnachtszeit lebt von glückseligem Kitsch, krampfhaft gut gelaunter Harmonie und von glühweinbesoffener Geselligkeit. Dinge, mit denen ich nichts anzufangen weiß, so sehr ich mich auch bemühe. Und vielleicht geht es nicht nur mir so.

Vielleicht schaffe ich es aber auch in diesem Jahr, das Beste aus dieser Zeit zu machen und die kommenden Wochen für Dinge zu nutzen, die mir guttun. Vielleicht aber auch nicht. Ist dann auch okay. Es muss nämlich nicht immer ein flammenumlodertes „Hell, yeah“ sein. Manchmal reicht auch ein „Hell, meh.“ Ein Schulterzucken, ein erleichtertes Durchatmen und die Tatsache, dass man mit einer Schramme davongekommen ist.



Passt auf euch und andere auf und kommt gut durch die dunkle Jahreszeit.
 Hell, yeah. (3 x Flammenemoji einfügen)