Philipp Winkler

Autorentipp: Philipp Winkler

Es gibt Autor*innen, bei denen man nach wenigen gelesenen Absätzen weiß, dass man alles, wirklich alles lesen wird, was sie jemals veröffentlichen werden. In diese Autor*innenliste gesellt sich bei mir nun seit kurzer Zeit auch Philipp Winkler.

Sein Debütroman „Hool“ erschien bereits 2016 und lag als Taschenbuch gemeinsam mit seiner aktuellen Veröffentlichung „Creep“ (Hardcover) auf meinem Stapel ungelesener Bücher. Und weil ich gerade ein handliches Buch zum Unterwegslesen brauchte, fiel meine Wahl auf „Hool“. Und alles an diesem Buch packte mich auf Anhieb. Der Hauptcharakter. Die Schreibstimme. Und diese bedrückende Ästhetik, die von der Kulisse aus Tristesse und Abgründigkeit ausgeht:

Heiko ist Hooligan. Er schlägt sich durchs Leben, im wahrsten Sinne des Wortes. Mit seinen Kumpels trifft er sich im Rahmen von Fußballspielen regelmäßig zu Ackermatches gegen rivalisierende Hool-Gruppen. Heikos Alltag im Speckgürtel von Hannover ist geprägt von Perspektivlosigkeit, Alkohol, Kriminalität und Gewalt. Und von Sehnsucht. Aber das würde Heiko niemals zugeben, denn Heiko muss hart sein in einem Leben, das immer so hart zu ihm war. Ein Leben, das ihn in einer dysfunktionalen Familie aufwachsen ließ. Ein Leben, in dem sich seine große Liebe den Drogen hingibt und sein bester Freund halb tot geschlagen im Krankenhaus liegt.

„Hool“ ist das traurigste Buch, das ich seit langem gelesen habe. Weil diese Geschichte so wahr ist. Denn obwohl Heiko oberflächlich nichts anderes ist als ein brutaler und hirnloser Schlägertyp, steckt in ihm doch so viel mehr, so viel Verletztes, so viel Entwurzeltes, so viele Wunden, so viel Gefühl – doch aus ihm heraus kommt immer nur Wut, Hass und Gewalt. Und sicherlich ist Heiko in seiner ganzen Art ein Extrembeispiel. Doch den vermeintlichen Selbstschutzmechanismus, Emotionen hinter einer Fassade aus Härte und Coolness zu verbergen mag doch so manchem bekannt vorkommen. 

Die Schreibstimme ist hier sicherlich nicht für jede*n. Rotzig und schnodderig ist sie, aber genau das passt zu Heiko. Blümerates Fabulieren würde ihm halt nicht stehen. Rückblenden in seine Kindheit und frühe Jugend erklären sein Verhalten, ohne es zu entschuldigen. Heikos Geschichte ist Milieustudie und Psychogramm, sie zeichnet eindrücklich die hässliche Fratze toxischer Männlichkeit, in der psychische und physische Gewalt verharmlost und Emotionen unterdrückt werden in der Hoffnung, so das eigene Selbstwertgefühl über Normalnull halten zu können.

„Hool“ ist ein richtig intensives Leseerlebnis und bekommt von mir alle Sterne, die man verteilen kann.

„Dies ist ein letztes Hurra auf die Kirmes und die, die sie bevölkerten und lebendig machten. Auf dass ihr euch vielleicht an sie erinnern werdet. An jene, die den Spaß erfanden.“

Dass Philipp Winkler in seinen Romanen ein Herz für Außenseiter und Freaks hat, die am Rande der Gesellschaft ungesehen vor sich hin leben, zeigt sich auch in seinem zweiten Roman „Carnival“. Dieses Buch ist mit seinen bummelig 120 Seiten ein echter Lesesnack.

Kein raffinierter Spannungsbogen, kein durchdachter Plot, sondern eher eine melodische Aneinanderreihung von Beobachtungen und Anekdoten aus der Welt der Schausteller. Kirmesromantik zwischen Riesenrad und Zuckerwatte. Poetische Lästereien über alle, die nicht zur eingeschworenen Gemeinschaft des fahrenden Jahrmarktvolks gehören. Eine echte Liebeserklärung an den Zauber der Rummelplätze.

Philipp Winkler – Carnival

Philipp Winkler – Creep

„Creep“ erschien 2021 und ist der aktuelle Roman von Philipp Winkler. Und obwohl thematisch wieder eine ganz andere Richtung eingeschlagen wird, geht es auch hier wieder um Außenseiter, um Grenzgänger, um Ängste und um Räume, in denen sich moralische Grenzen verschieben.

Der Roman setzt sich aus zwei Handlungssträngen zusammen:

Fanni lebt in Deutschland und dringt als Angestellte einer Firma für Überwachungstechnik regelmäßig in das Leben fremder Menschen ein. Sie entwickelt eine emotionale und obsessive Faszination für das harmonische Leben der Familie Naumann, die sie regelmäßig heimlich über die im Haus installierten Sicherheitskameras beobachtet. Sie verkauft geleakte Datensätze im Darknet und führt ein Leben in selbstgewählter Isolation, angereichert mit exzentrischen Joggingrunden, Militärmahlzeiten und Gore- und Snuff-Videos.

Junya lebt in Japan wurde in seiner Kindheit immer wieder sowohl Opfer seiner strengen Mutter als auch seiner sadistischen Mitschüler. Er verweigert die Teilnahme am Leben und lebt einsam hinter stets verschlossener Tür in einem Zimmer seines Elternhauses. Nur selten verlässt er diesen Ort – dann begibt er sich auf seinen persönlichen Rachefeldzug gegen die, die er für sein Schicksal verantwortlich macht. Seine Taten filmt er, die Aufnahmen veröffentlicht er in der Hoffnung auf ein bisschen Anerkennung und Aufmerksamkeit im Darknet.

In wechselnden Kapiteln wird die Geschichte dieser beider Charaktere erzählt. Die Handlungsstränge überschneiden sich nicht an einer einzigen Stelle, und doch sind die Leben von Fanni und Junya miteinander verbunden. Denn beide verspüren diese Sogwirkung, die die finstere Seite der virtuellen Welt auf Menschen ausübt, die in selbiger ihre einzige Heimat gefunden haben.

Philipp Winkler besitzt ein feines Gespür für die Dinge, die an den Rändern einer satten Gesellschaft passieren. Seine Schreibstimme ist vielfältig, wandelbar und kraftvoll. In „Creep“ schimmert seine Auslandserfahrungen in Japan durch die Geschichte von Junya hindurch. Die Dramaturgie in „Hool“ ist auf allen Ebenen einfach sensationell gut.

Ich weiß nicht, ob Philipp Winkler aktuell an einem neuen Roman arbeitet. Er sollte es tun. Denn ich werde ihn auf jeden Fall lesen!


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