Little girls should be seen and not heard
CN – sexualisierte Gewalt
Warum ist sie denn bitte da mitgegangen? Sie muss doch wissen, was dort passieren kann. Man fährt doch aber auch nicht als junges Mädchen nachts allein mit der U-Bahn. Wenn sie abends im Park joggen, geht dann muss sie damit rechnen. So ist das doch. Das weiß man.
Mehr noch als der Inhalt der vielfältigen Vorwürfe, die momentan gegen eine der bekanntesten deutschen Rockbands im Raum stehen, widert mich die Art und Weise an, wie wir – unabhängig von diesem aktuellen, konkreten Fall – angesichts so vieler Betroffener, immer noch als Gesellschaft mit der sexualisierten Gewalt umgehen, die Frauen und weiblich gelesene Menschen (FLINTA) tagtäglich erfahren.
Es ist uns eine Selbstverständlichkeit, ein naturgegebenes Gesetz, dass es Orte gibt, die für sie gefährlich sind, an denen grundlegende Regeln des menschlichen Miteinanders halt nicht gelten. Nun ja, so ist das eben, daran kann man ja nichts ändern, anyway, nächstes Thema. Wir setzen voraus, dass Frauen diese gefährlichen Räume bekannt sein müssen, dass sie vollumfängliche Vorahnung haben müssen bezüglich der schrecklichen Dinge, die ihnen dort angetan werden könnten und wir sehen keine Notwendigkeit, an diesem Umstand etwas zu ändern. Denn wie kann sie nur so naiv sein. Und Männer sind nun mal so. Das Betreten dieser Gefahrräume gilt als stumme Einverständniserklärung zu allem, was folgen mag. Es verpflichtet sie zum Erdulden jeder Grenzüberschreitung, jeder Verletzung.
Warum hat sie denn nicht nein gesagt?
Schon kleinen Mädchen sagen wir Dinge wie „Was sich neckt, das liebt sich“ und „Eigentlich mag der dich. Der kann das nur nicht so zeigen!“. Anstatt ihnen zu zeigen, wie man sich gegen Übergriffigkeit wehrt. Schon im frühen Alter bringen wir ihnen bei, „nicht so zickig“ zu sein, wenn sie sich behaupten oder durchsetzen wollen. Wir versagen dabei, ihnen beizubringen, dass es okay und richtig ist, Grenzen zu haben und sie im Falle eines Falles auch entschlossen zu kommunizieren. Wir bekommen es nicht hin, ihnen zu vermitteln, dass es wichtig ist, laut und deutlich NEIN! zu sagen. Denn es ist uns wichtiger, dass sie hübsch, lieb und vorzeigbar sind. Schon Teenagerzeitschriften machen ihnen klar, dass ihr Aussehen wichtiges Kapital ist und dass Bestätigung durch einen Vertreter des männlichen Geschlechts eines der obersten Ziele sein muss – zur Not lässt sich mit fragwürdigen Flirttips wie „Benutze immer Rouge — das wirkt gesund und sexy auf Typen!“ nachhelfen.
Ein paar Jahre später machen wir ihnen dann zum Vorwurf, dass sie Grenzüberschreitungen durch gewalttätige Partner oder übergriffige Chefs und Kollegen viel zu spät als solche erkennen und benennen. Warum haben sie es sich denn so lange gefallen lassen? Warum haben sie denn nicht schon viel eher etwas gesagt, so schlimm kann es dann ja nicht gewesen sein, oder?
In dubio pro irgendwas, was ich mal gehört habe.
Wir glauben ihnen nicht, wenn sie sprechen, wenn sie endlich den Mut finden und die Scham durchbrechen. Wenn sie endlich erzählen, was ihnen passiert ist. Wir suchen nach Erklärungen, und zur Not ziehen wir diese auch an den Haaren herbei – nur damit unser Bild von dem großen Rockidol, dem lieben Familienonkel oder dem netten Kollegen nicht bröckeln muss. Wir verdrehen den Begriff der Unschuldsvermutung bis zur grotesken Unkenntlichkeit, völlig egal, ob wir wissen, was dieses Grundprinzip des rechtsstaatlichen Strafverfahrens eigentlich wirklich bedeutet. Wir sprechen denen, die sprechen, sämtliches Urteilsvermögen und sämtliche Zurechnungsfähigkeit ab und blicken herab auf die vermeintlichen „Opfer“, denn selbst, wenn da etwas dran ist an diesen Vorwürfen, ist sie ja bestimmt auch nicht ganz unschuldig, sie hätte ja nein sagen können. Und was zieht sie sich auch den kurzen Rock an an und geht da hin?
Wir unterstellen ihnen die Gier nach Ruhm und nach Geld und vergessen dabei, dass die Wahrscheinlichkeit gleich null ist, das eine oder das andere duch die Öffentlichmachung von sexualisierter Gewalt zu erreichen. Wir werfen ihnen vor, dass sie Leben und Karrieren zerstören und sehen nicht, dass die Täter die Täter sind. Verantwortlich für das, was sie getan haben und tun. Dass Täter nie die Opfer waren und sein werden. Und dass Täter ihre Karriere danach viel zu oft komplett unbehelligt fortsetzen können.
Wir weigern uns, die Machtstrukturen zu erkennen und aufzubrechen, in denen Männer jahrelang sehr hässliche Dinge tun können, ohne etwas befürchten zu müssen. Wir zeigen lieber laut lachend mit dem Finger auf die naiven Dinger, die es nötig haben, sich in bester Schlampenmanier „hochzubumsen“.
Wir sprechen von öffentlichen „Hexenverbrennungen“, wenn prominente Männer in aller Öffentlichkeit endlich mit ihrem jahrelangen, misogynen Verhalten konfrontiert werden und wir erkennen noch nicht einmal die geschmacklos-traurige Ironie in dieser Aussage.
Wir verkaufen Schnelltests für K.O.-Tropfen und Pfefferspray und teilen auf TikTok ruckelige Videos voller hanebüchener „Selbstverteidigungstricks“, von denen die meisten im Ernstfall nur dazu taugen werden, sich komplett lächerlich zu machen. Wir richten Schutzräume und Frauenhäuser ein, in die sich die Opfer von Gewalt verkrümeln sollen um Platz zu machen für die, die sich daneben benehmen. Wir schieben die Verantwortung von uns und kreieren eine Illusion der Sicherheit, ohne wirklich etwas leisten zu müssen. Ohne uns zum obersten Ziel zu setzen, dass sich jede überall gefahrlos bewegen kann.
Wir erwarten, dass Frauen und Mädchen vorbereitet sind auf eine Welt, in der Gefahren hinter jeder Ecke lauern. Und ja, diese Gefahren bestehen meist aus Männern, doch diese Tatsache wollen wir nicht ansprechen, denn das sind doch Freunde, Kumpels und Kollegen. Und darum ist es halt die Schuld der Frauen, wenn sie trotz aller Vorbereitung der Gefahr doch erliegen. Denn sie hätten es doch wissen müssen.
Wir rollen mit den Augen und pusten die Backen auf, angesichts der vielen Frauen, die jetzt den Mut finden, zu sprechen. Wir sagen Dinge wie „Ja ach Gottchen, wenn es danach geht, ist ja jede Frau schon mal sexuell belästigt worden!“ Und wir sind mit dieser Aussage so kurz davor, das Problem in seiner Gänze zu begreifen.
Wir verstehen nicht, dass wir Glück haben. Weil diese Frauen nur Gerechtigkeit wollen. Und keine Rache für das, was ihnen angetan wurde.
Die aktuelle Diskussion um groupiekonsumierende Rockstar-Creeps zeigt bei aller Scheißigkeit der Sachlage zum Glück auch, dass sich die Dinge seit einiger Zeit gewaltig ändern. Sie müssen sich ändern.
Solidarität mit allen Betroffenen.
Boom.