Tschüss Flausch. Ein Abschied.

Jeder Tag, den er erleben durfte, war ein Tag, den das Schicksal nicht für ihn vorgesehen hatte. Denn eigentlich war er nach seiner Geburt schon fast tot. Allein, viel zu jung von seiner Mutter getrennt, entsorgt wie ein Stück Müll. Den engagierten Menschen bei der Tierhilfe Wendland ist es zu verdanken, dass er gefunden, aufgepäppelt und gesund gepflegt und schließlich mein Kater wurde.

Ich erinnere mich, dass ich damals, vor 6 Jahren, keinen neuen Kater adoptieren wollte. Zu groß war noch die Trauer um meinen verstorbenen Chefkater Moppi, der mich 16 Jahre lang begleitet hatte – länger, als die meisten Menschen, denen ich in meinem Leben begegnet bin. Moppi war immer ein gemütlicher Kater gewesen, aber am Ende ging alles ganz schnell. Er starb im biblischen Alter von 21 Jahren an Nierenversagen. In dem Moment, als es geschah, lag meine Hand auf seinem Herzen und sein langes Katerleben ging zu Ende. Ich begleitete seine letzten Atemzüge mit den Worten „Ich habe dich so lieb“. Das war einer der intensivsten Momente meines Lebens.

Zwei Freundinnen war es zu verdanken, dass ich im Winter 2017 schließlich doch zur Tierhilfe nach Lüchow fuhr, um das kleine flauschige schwarz-weiße Etwas gegen alle inneren Widerstände doch bei mir aufzunehmen – zusammen mit seinem besten Freund, einem schwarzen Kater aus einem anderen Wurf, den wir noch vor Ort auf den Namen Ernie tauften.

Flausch

Trotzdem blieb ich zunächst skeptisch. Flausch auch, denn er versteckte sich nach seinem Einzug ganze drei Tage unter meiner Couch und ließ sich nicht mehr blicken. In der Zwischenzeit hatte Ernie schon die ganze Wohnung als sein neues Zuhause und mich und den Lebenskomplizen als sein Personal akzeptiert.

Viel Geduld und gutes Zureden waren nötig, bis sich der kleine Flausche-Kater endlich zeigte. Zögerlich kam er schließlich hervor – und wich mir nicht mehr von der Seite. Er wurde mein Gänseküken, mein ständiger Begleiter, der mir in meiner Wohnung auf Schritt und Tritt folgte und immer in meiner Nähe war. Er schlief auf meinem Schreibtisch, wenn ich arbeitete. Er saß auf der Waschmaschine, wenn ich duschte. Wenn ich abends vom Training nach Hause kam, sprang er mir zur Begrüßung auf die Schulter, noch während ich meine Schuhe auszog. Die Abende verbrachte er am liebsten auf der Sofalehne hinter mir – wie ein lebendiger Pelzkragen lag er dann in meinem Nacken und sein wohliges Schnarchen zu hören, machte mich so oft zu einem unglaublich glücklichen Menschen.

Er konnte seinen flauschigen Körper auf gefühlte 1,50 Meter strecken, komplett verdrehen oder auf Untertassengröße zusammenrollen. Er liebte es, in alles Grüne zu beißen: Salatblätter. Spinat. Zimmerpflanzen. Wenn ich Gurken in der Küche liegen hatte, waren sie im Nu an beiden Enden angeknabbert. Er verstand schnell, wie Türklinken funktionieren und bewies ständig seine Fähigkeiten als großer Türöffner. Das Schlafzimmer war für ihn tabu – was ihn aber nicht davon abhielt, bei jeder Gelegenheit hineinzustürmen und wie ein Flummi in einem unfassbaren Bogen ins Bett zu springen. Wir begrüßten uns oft mit einem „Köpfchengeben“ – einem sanften Stoß mit der Stirn, mit dem Katzen tiefes Vertrauen (und Besitzansprüche) ausdrücken.

Ich erinnere mich an Winterabende, an denen ich mit Buch, Decke und Tee auf der Couch lag – neben mir der Lebenskomplize und zwei schlafende Kater – und mir bewusst wurde, dass alles, was mir in meinem Leben wirklich wichtig war, genau hier bei mir war. In diesen Momenten fühlte ich mich reich und vom Leben beschenkt.

Flausch hat sich in mein Herz geschlichen. Er hat die Erinnerung an Moppi nicht verdrängt, ganz im Gegenteil. Er hat mir vielmehr gezeigt, wie einzigartig und besonders jede Katze, jeder Kater ist. Und wie ähnlich sie sich doch alle in ihren Eigenarten sind. Wir verbrachten fast 6 Jahre miteinander und irgendwann hatte ich das Gefühl, ihn besser zu verstehen als so manchen Menschen.

Dann kam der Sommer.

Als ich Ende Juli mit ihm zur Tierärztin ging, ahnte ich nichts Schlimmes. Er hatte etwas abgenommen und schlief plötzlich so ungewöhnlich viel. Nun ja. Vielleicht etwas mit der Schilddrüse, dachte ich, sicherheitshalber mal checken lassen.

Eine Woche und mehrere Tierarztrechnungen später dann die zerschmetternde Diagnose: Infektion mit dem felinen Coronavirus, Virusmutation und Ausbruch von FIP.

FIP ist die Abkürzung für feline infektiöse Peritonitis. Sie ist die schwerste Infektionskrankheit, die Katzen treffen kann. Sie zeigt sich in zahlreichen Erscheinungsformen und führt innerhalb kürzester Zeit zum Tod des Tieres. Ich wusste zwar, dass es diese Krankheit gibt, aber sie ist selten und ich hatte bisher glücklicherweise keinen Anlass gehabt, mich detaillierter damit zu beschäftigen. Das sollte sich nun ändern.

Ich verbrachte eine komplette Nacht am Laptop, las und recherchierte. Was konnte ich jetzt tun, um ihm die kurze Zeit, die ihm nun noch blieb, so angenehm wie möglich zu machen? Ich stieß auf Erfahrungsberichte, traurige Geschichten, Tierarztblogs – und schließlich auf Hoffnung. Die Hoffnung kam in Form eines Nukleosid-Analogons mit dem klangvollen Namen GS-441524.

GS-441524 ist ein neuer Wirkstoff, der bereits in mehreren Studien seine enorme Wirksamkeit gegen FIP gezeigt hat. Trotzdem ist er in der EU noch in keinem Arzneimittel zugelassen. Tierärzt*innen drohen also hohe Strafen, wenn sie diesen Wirkstoff im Rahmen ihrer tierärztlichen Tätigkeit verabreichen (Anmerkung: In den Niederlanden und in der Schweiz laufen gerade Zulassungsverfahren für GS-441524).

Der private Erwerb und die private Verabreichung bewegen sich hingegen in einer rechtlichen Grauzone. Noch in der selben Nacht nahm ich Kontakt zu einer Gruppe auf, die die Behandlung mit GS-441524 im privaten Rahmen organisiert. Ja, die Therapie ist aufwendig, langwierig, kompliziert und sehr, sehr teuer. Aber: Katerliebe.

Flausch sollte diese Chance bekommen. 84 Spritzen sollten es werden, die sein flauschiges Leben retten sollten. Jeden Tag, subkutan injiziert, exakt zur gleichen Uhrzeit, nicht früher, nicht später. Dazu Nahrungsergänzungsmittel, Aufbaufutter, Antibiotika, Vitamine. Da bei FIP jeder Tag zählt und Flausch schon enorm geschwächt war, bekam ich die Ampullen mit dem Wirkstoff zwei Tage später von jemandem hier in Hamburg, der seine FIP-erkrankte Katze ebenfalls mit dieser neuen Therapie behandelte. Ich stand dort im Wohnzimmer, ließ mir alles genau erklären und sah, wie die erkrankte Katze (die sich bereits in der 8. Woche der Behandlung befand) lebhaft durch die Wohnung flitzte. Die Hoffnung türmte sich meterhoch in mir auf. So würde es auch mit Flausch sein. Alles würde gut werden. Flausch würde wieder gesund werden.

Der Lebenskomplize und ich warfen alle Pläne für unser 10jähriges Beziehungsjubiläum und Sommer- und Herbsturlaub über Bord und starteten das Projekt #savetheflausch.

Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich einer Katze eine Spritze gegeben und die ersten Versuche glichen einer kompletten Katastrophe. Nur zu zweit und mit Hilfe einer Decke, in die wir Flausch jeden Abend zur Spritzzeit einwickelten, gelang es uns, ihm den benötigten Milliliter der Substanz zu injizieren. Wir hatten ständigen Kontakt zu einer Gruppe von Betreuer*innen und Behandler*innen, die rund um die Uhr für Fragen zur Verfügung standen.

Die Tage vergingen. Flausch schlief immer noch viel. Er aß wenig, hatte Durchfall, verlor weiter an Gewicht. Jeden Tag notierte ich mir die Menge und die Stelle der Injektion, die Futtermenge, die Konsistenz und die Häufigkeit seiner Toilettengänge. Als er nicht mehr selbständig fraß, mischte ich ihm eine mit Vitaminen und Medikamenten angereicherte Aufbaunahrung an, die ich ihm alle paar Stunden mit Hilfe einer Spritze in die Schnute drückte. Wir machten weiter. Hofften weiter. Kämpften weiter.

Ich hatte viele Erfahrungsberichte gelesen und Fotos gesehen. Von Katzen, die durch FIP schon fast tot waren, die mit GS-441524 behandelt wurde und schließlich doch wieder gesund wurden. Manchmal dauert es halt etwas, bis die Behandlung anschlägt, hieß es immer wieder. „Bei uns hat es drei Wochen gedauert“, hörte ich von einem anderen Katzenmenschen. Doch in mir wuchs die nagende Befürchtung, dass Flausch zu dem kleinen Prozentsatz der Katzen gehören könnte, die es trotz GS-441524 nicht schaffen können. Die einfach zu schwach oder zu krank waren.

Und ich begann, ihn zu vermissen. Ja, er lebte. Aber er war nicht mehr der Kater, den ich kannte. Seine quirlige Lebendigkeit, seine Lebensfreude, seine ständige Präsenz waren verschwunden. Die meiste Zeit zog er sich in seine Schlafhöhle zurück, rollte sich unter dem Sofa zusammen, verkroch sich in irgendwo, anstatt abends bei mir zu liegen. Sein Anblick machte mich unfassbar traurig. Ich merkte, dass es ihm gar nicht gut ging und ich musste mir eingestehen, dass es mit dem kleinen Kerl seit Wochen einfach nur bergab ging. Dass alle Bemühungen anscheinend keine Früchte trugen. Diese Gewissheit schlug in stillen Momenten ihre scharfen Zähne immer tiefer in mein Herz. Die Verantwortung für sein Katerleben lastete tonnenschwer auf mir.

Was war das Richtige? Lag es an mir? Hatte ich etwas falsch gemacht? Hatte ich etwas übersehen? Sollten wir weitermachen, weiter gegen diese tückische Krankheit kämpfen? Wie aussichtsreich war dieser Kampf überhaupt noch? Welche Chancen hatten wir noch? Oder sollten wir ihm den Weg abkürzen? Die Gedanken rasten in meinem Kopf ständig zu einer Massenkarambolage ineinander.

Nach zwei Wochen der Behandlung mit GS-441524 war bei Flausch immer noch keine Verbesserung eingetreten. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich, er wurde immer schwächer. Ich bekam weitere Tipps für Medikamente gegen Appetitlosigkeit. Prednisolon. Cerenia. Mirtazapin. Inzwischen war auch ich mit den Nerven am Ende. Ich weinte ständig, schlief kaum noch, hatte Albträume, schaffte es nicht mehr, zu essen. Eines Abends brach ich weinend zusammen, lag heulend wie ein kleines Kind auf dem Wohnzimmerboden und alle Kraft die ich noch hatte, lief gefühlt wie eine zähe Flüssigkeit aus mir heraus. Ich ertrug es nicht mehr, ihn als ein Häufchen Elend zu sehen. Ich machte einen schnellen Termin bei meiner Tierärztin und bat sie um Rat und Einschätzung der Situation. Sie bestätigte meine Befürchtungen um seinen schlechten Zustand. Sie verabreichte ihm nach Absprache mit mir noch ein Glukokortikoid und ein Vitaminpräparat, sagte mir aber ganz klar, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch sei, dass er es nicht schaffen würde.

Er starb noch am selben Abend zu Hause. Ich hielt seinen Kopf in der Hand, der vor Schwäche immer wieder wegsackte, legte meine andere Hand vorsichtig auf seinen kleinen Körper. Zwei tiefe Atemzüge, dann war es vorbei. Er hatte den Kampf verloren. Und doch sagte ich in diesem Moment zum Lebenskomplizen: „Er hat es geschafft.“

Weinend standen wir in einer langen Umarmung neben unserem leblosen Flausch.
Es war der schlimmste Moment seit langem. Alles tat weh. Alles war umsonst gewesen.

Zurück bleibt ein flauschförmiges Loch voller Schmerz hier in seiner kleinen Welt. Er fehlt uns unendlich. Immer wieder kommen die Tränen, immer wieder kommt die Traurigkeit voller Wucht und reißt uns mit. Trauer ist Liebe, die nicht mehr weiß, wohin sie nun soll. Wir haben Flausch so sehr geliebt. Und wir hoffen, dass diese Liebe bis dorthin reicht, wo er jetzt ist.

Urne Flausch

Oft überkam mich in den letzten Tagen neben all der Trauer auch die Wut. Wut darüber, dass er so früh sterben musste, nach nur sechs Jahren. Wut darüber, dass er so krank werden musste, dass dieser kleine, zarte Kater gegen einen so schwergewichtigen Gegner in den Ring steigen musste. Ein Gegner, gegen den er vielleicht von Anfang an keine Chance hatte. Wie dreckig und wie beschissen unfair dieser Kampf doch war.

Und dann denke ich an den Anfang seines Lebens, der damals eigentlich schon das Ende gewesen war. An den Müllhaufen, in dem er zum Glück gefunden wurde. An das liebevolle Aufpäppeln, das er schon damals in der Tierhilfe erfahren durfte. Daran, dass jeder Tag danach für ihn ein Geschenk des Glücks war. Ich schaue mir all die vielen Fotos und Videos an, die ich in unserer gemeinsamen Zeit von ihm gemacht habe. Bilder, auf denen er stets so glücklich und entspannt aussah. Schlafend. Kuschelnd. Aufgeweckt und lebensfroh. Sein Leben war kurz. Aber es war ein Geschenk. Ein sehr, sehr schönes Geschenk. Für ihn und für alle, die ihn liebten.

Seinen kleinen, ausgezehrten und abgekämpften Körper haben wir bei der Tierbestattung Rosengarten kremieren lassen. In einer schwarz-weiß geringelten Urne steht seine Asche nun hier im Wohnzimmer im Regal – neben den Urnen vom Chefkater Moppi und meiner Katzendiva Moosh. Unter der Goldfruchtpalme, an deren grünen Blättern er immer so gerne snacken wollte und es nie durfte. Ich finde diese Art der Erinnerung an meine Tiere sehr schön und würdevoll.

Mein Flausch. Mein Trash Gremlin. Mein kleiner Bagalut. Danke für jeden Tag, an dem ich dein Mensch sein durfte. Danke für jeden Tag, an dem du mein Kater warst. Du bist vielleicht nicht mehr da, wo du warst. Aber du bist überall, wo ich bin.

Ich habe dich so sehr lieb. Möge die Erde dir leicht sein.


Disclaimer:

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