Don’t look back in anger – Jahresrückblick 2020
Ich habe wirklich lange darüber nachgedacht ob ich einen Jahresrück oder -vorausblick schreiben soll.
Zum einen, weil ich das Ganze immer ziemlich abgeschmackt finde. Dieser kollektive Zwang zum besinnlichen Kontemplieren zwischen den Feiertagen kommt immer ziemlich rührselig daher und ist meist aufgeladen mit Vorsätzen, die Mitte Januar schon wieder vergessen sind und mit Tschakka-Weisheiten, mit denen sich die Schreibenden glauben machen wollen, dass das folgende Jahr ganz ganz großartig, magisch und was-weiß-ich-noch-alles werden soll. Aber nur weil wir mit unserer mickrigen Existenz wieder einmal um die Sonne rum sind, ändert sich ja noch nicht viel. Und Zeit zum Reflektieren kann man sich ja nun auch nicht erst dann nehmen, wenn die letzten drei Blätter am Abreißkalender in der Küche hängen.
Zum anderen hatten wir ja nun nicht so ein Traumjahr, das man sich rückblickend seufzend und mit feuchten Augen ansieht und mit seligem Lächeln von der wundervollen Zeit schwärmt. Die meiste Zeit des Jahres matschte irgendwie recht konturlos ineinander über. Erst war es März und zack, war auch schon wieder Weihnachten.
Also, was gibt es zu sagen bevor ich mich mit zaghaften Schritten in das neue Jahr wage (nicht zu doll, man weiß ja nicht, was da so um der Ecke lauert)? Ich fang mal an. In ungeordneter Reihenfolge. Einfach so, ohne Notizen und mit möglichst wenig Nutzung der Backspace-Taste. Was mir als erstes in den Sinn kommt. (Den ganzen Corona-Kram lasse ich mal so gut es geht weg. Das will ja niemand mehr lesen. Ihr kennt das ja selber.)
Ich habe meine Therapie beendet.
Im August hatte ich die letzte Sitzung in der Verhaltenstherapie, in der ich vier unglaublich intensive, anstrengende und lehrreiche Jahre verbringen durfte. Vier Jahre reflektieren, hingucken, einsehen, nachdenken, in Frage stellen, weinen, auf Fingerknöchel beißen, leugnen, erkennen, mit mir und meinem Umfeld ins Gericht gehen.
2016 begann ich die Therapie mit einer beeindruckenden Sammlung an Diagnoseschlüsseln, akuter Suizidgefährdung und aus all dem resultierender Arbeitsunfähigkeit. Ich hatte das unglaubliche Glück, zeitnah einen ambulanten Therapieplatz in meiner Nähe zu bekommen. Ich hatte die beste Therapeutin, die ich mir wünschen konnte. Eine junge, offene Frau in ihrer Ausbildung zur Verhaltenstherapeutin. Wir haben beide viel voneinander gelernt und ich bin ihr unendlich dankbar für die gemeinsame Zeit.
Und heute? Bin ich geheilt? Nein. Ich lebe seit meiner Kindheit mit einer rezidivierenden Depression und werde das auch weiterhin tun. Ich muss damit rechnen, immer wieder sehr, sehr dunkle Zeiten zu haben. Ich habe während der Therapie an mir Dinge entdeckt, die weiter bearbeitet werden müssen. Ich habe jetzt die Kraft, um diesen Dingen den nötigen Raum zu geben und kenne Methoden und Techniken, um all das und mehr zu schaffen. Ich befinde mich nach wie vor hierfür in professionellen und guten unterstützenden Händen. Meine Depressionen machen mir keine Angst mehr. Ich kenne sie dafür zu gut. Ich weiß, woher sie kommen und was sie von mir wollen. Sie machen mich nicht mehr hilflos oder passiv. Sie werden immer ein Teil von mir bleiben und vielleicht ist das auch gar nicht so schlecht. Immerhin hat mich diese Krankheit dazu gebracht, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen und achtsamer und stärker zu werden als ich es vielleicht ohne sie jemals geschafft hätte. Ich bin darauf sehr stolz.
Ich habe einen wunderschönen Urlaub gemacht.
The big C sorgte natürlich auch bei mir dafür, dass sämtliche Urlaubspläne für 2020 über den Haufen geworfen werden mussten. Eigentlich wollte ich mir nach meiner letzten Reise nach Australien 2016 mal wieder eine längere Auszeit in Down Under gönnen und meinen Roadtrip dort fortsetzen, wo ich damals aufgehört hatte. Aber. Nun ja. Ihr wisst ja.
Im Sommer beschlossen der Lebenskomplize und ich dann trotz aller Umstände einen Tapetenwechsel vorzunehmen. Wir wollte aufgrund der Lage in Deutschland bleiben. Mit dem Zug verreisen. An einen Ort, an dem man auch ohne Auto gut rumkommt. An einen Ort, an dem man sich nicht mit einem Haufen anderer Touristen auf den Füßen steht. Irgendwas mit Natur und Wandern. Und in ein Hotel, in dem wir auch eine schöne Zeit haben würden, selbst wenn es draußen eine Woche lang Kacke regnet.
Unsere Reise führte uns im August nach Grainau in das Eibsee-Hotel. Wir verbrachten eine großartige Woche dort direkt am See in der Natur, wanderten durch die Partnachklamm und die Höllentalklamm, wir waren (trotz meiner wirklich panischen Höhenangst) auf dem höchsten Berggipfel Deutschlands und sogar einmal ganz kurz drüben auf der österreichischen Seite der Zugspitze (mein einziger Auslandsaufenthalt in 2020). Ich habe in der besten Sauna gesessen, die ich je gesehen habe und habe mich wirklich unsterblich in die Zugspitzregion verliebt. So sehr, dass es durchaus eine realistische Überlegung war, im Winter nochmal für ein paar Tage hinzufahren. Aber. Nun ja. Ihr wisst ja auch hier.
Ich bin 40 geworden
…und es tat gar nicht weh. Mein Geburtstag fiel in die Zeit, die wir jetzt rückblickend als „ersten Lockdown“ bezeichnen und in der wir uns an Social Distancing und diesen zermürbenden Zustand ohne Veranstaltungen und Gastronomie noch nicht wirklich gewöhnt hatten. Und in der wir auch noch nicht ahnten, dass wir uns daran würden gewöhnen müssen. Meine Pläne für diesen Tag wurden also schon früh durchkreuzt, doch ich beschloss, das Beste draus zu machen. Mein Geburtstag war zum Glück ein sonniger Frühlingstag, an dem ich mit dem Lebenskomplizen Tourist in der eigenen Stadt spielte, wie durch Zufall unterwegs eine Menge Freunde traf und selbstgebackenen Geburtstagskuchen aß. Mit bunten Streuseln. Wie sich das gehört, wenn man 40 wird.
Ich habe einen Roman geschrieben
Okay, ich gebe zu, dass ich dazu etwas länger als ein Jahr gebraucht habe. Ich habe 2016 angefangen, an dem Ding zu schreiben. Seit Mitte 2020 beschreibe ich meine Autorentätigkeit an dem knapp 130.000-Wörter-Monster jedoch fürs Erste als abgeschlossen und gehe mit Manuskript und Exposé nun verschiedenen Verlagen und Literaturagenturen auf die blankliegenden Nerven. Während einer Pandemie ein Buch irgendwo unterjubeln zu wollen ist nämlich auch eine Herausforderung, die man nicht unterschätzen sollte.
Ich hatte das schlechteste Jahr seit Beginn meiner Selbständigkeit
Es ist sicherlich keine Überraschung, dass ich mit meiner Arbeit in der Kreativbranche nicht gerade zu denen gehöre, die sich im Pandemiejahr händereibend die Taschen vollgemacht haben. Trotzdem war mein Jahr im Vergleich zu dem anderer Kolleg*innen relativ gut und sorgenbefreit. Ich musste weder von Hilfszahlungen noch von Krediten Gebrauch machen, blieb finanziell unabhängig und abgesichert, hatte eine recht gute Auftragslage und habe sogar ein paar tolle neue Kunden dazugewonnen. Und das Wichtigste: Ich bin voller Gelassenheit durch diese doch ungewisse Zeit gekommen. Noch vor wenige Jahren hätten mich die Ereignisse der letzten Monate lähmende Existenzängste und nächtliche Panikzustände erleben lassen. Nun sehe ich all dem zuversichtlich ins Auge und vertraue auf die guten Dinge.
Und sonst so?
Ich habe Flüge storniert. Parties gecancelt. Das Millerntor-Stadion leider viel zu selten von innen gesehen. Meine Freunde vermisst. Meine Eltern so selten besucht wie noch nie. Viel zu wenige Leute umarmt. Festgestellt, dass ich eine sehr große Schwäche für Gin-Tonic habe. Mir eine Maskengarderobe in den Flur gehängt. Ich habe (nach dem aktuellen Stand) 56 Bücher gelesen (davon sind 31 von Frauen und 11 in englischer Sprache). Ich habe dank Christian Drosten, Sandra Ciesek und Korinna Hennig und ihrem NDR Corona-Virus-Update-Podcast mehr über Virologie gelernt als ich jemals für möglich hielt. Ich habe das verflixte siebte Jahr mit dem Lebenskomplizen entspannt durchgestanden. Ich habe noch nie bei einer US-Wahl so sehr mitgefiebert wie bei dieser. Ich habe wieder mit dem Bloggen angefangen. Ich habe nicht ein einziges Konzert besucht. Ich habe für mich wichtige Entscheidungen getroffen, die ich hoffentlich im nächsten Jahr umsetzen kann. Ich habe gemerkt, dass man in Zeiten von Social Distancing über Twitter, Instagram und Facebook tatsächlich Freundschaften aufrechterhalten, wiederbeleben und neu schließen kann. Dass man über diese Wege leider aber auch Freundschaften beenden kann.
Eine weltweit um sich greifende Pandemie mit einer potentiell tödlichen Lungenerkrankung hatte ich mir auch anders vorgestellt. Nun ja. Eigentlich hatte ich mir sowas nie so wirklich vorgestellt. Aber wenn es mir vorstellt hätte, dann nicht mit Leuten, die sich plötzlich für subversiv, systemkritisch und rebellisch halten, weil sie einen Supermarkt ohne Mund-Nase-Schutz betreten, sich Diktatur-Märchen zusammenfantasieren oder Blödsinn in eine Telegramgruppe schreiben. Aber. Nun ja. Ihr wisst ja.
Wenn mir 2020 etwas gezeigt hat, dann dass es ziemlich blödsinnig ist, etwas planen zu wollen und sich die Zukunft mit lauter Zielen vollzupacken bevor sie überhaupt begonnen hat. Dass die Dinge oft so ganz anders kommen und dass Kontrolle immer nur eine Illusion ist an die man sich viel zu oft viel zu verzweifelt klammert. Dass große Transformationen immer aus kleinen Minischritten bestehen, die wir leider viel zu oft abwerten und als nicht ausreichend betrachten.
Und dass von meinem schönen Leben immer noch sehr viel übrig bleibt, selbst wenn man vieles von dem Schönen mal für eine Zeit lang wegnimmt.
In diesem Sinne. Guten Rutsch und nun ja. Ihr wisst ja. Don’t look back in anger.