Buchrezension: „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara
Ich gebe zu, dass ich mich – trotz meines Vielleserdaseins – sehr lange um „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara gedrückt habe. Immerhin ist das Ding was die Seitenzahl betrifft fast ein Tausender und allein schon die Covergestaltung lässt erahnen, dass es sich hierbei thematisch nicht um einen lustigen Schmöker handelt, den man mal locker an einem gutgelaunten Strandtag wegliest (Fun Fact: Das ikonische Titelfoto findet man im The Peter Hujar Archive unter dem Titel „Orgasmic Man“ )
Viel gelobt, heiß diskutiert und zahlreich besprochen stand es aber doch als fester Punkt auf meiner Leseliste und als ich es vor kurzem als Gebrauchtexemplar weitergeschenkt bekam, gab es keine Ausreden mehr.
Nun habe ich die letzte Seite hinter mir, einige Tage rückblickend über die Geschichte nachgedacht und noch nie fiel es mir so schwer, zu einem Buch ein abschließendes Gesamtfazit zu ziehen. Stellenweise zäh. Stellenweise spannend. Manchmal berührend. In Teilen gut und dann wieder über weite Längen unerträglich.
Gleich vorweg: Menschen, die in Bezug auf sexuellen, psychischen und körperlichen Missbrauch labil oder traumatisiert sind sollten „Ein wenig Leben“ (und vielleicht auch schon Rezensionen) auf GAR KEINEN FALL lesen!
Der Plot ist schnell umrissen: Es geht um die vier Freunde Malcolm, JB, Willem und Jude. Sie kennen sich seit frühester Jugend, leben in New York und machen alle fleißig Karriere. Im Mittelpunkt der Geschichte steht dabei der verschlossene Jude: Von seinen leiblichen Eltern ausgesetzt wuchs er im Kloster und im Heim auf und erfuhr dort schwersten psychischen und körperlichen Missbrauch und sexualisierte Gewalt. Seinen Freunden und Kollegen gegenüber verheimlicht er seine schwere Kindheit, dennoch werden sie immer wieder Zeugen seiner Nervenzusammenbrüche und seines selbstverletzenden Verhaltens. In Rückblenden erfährt der•die Leser•in im Laufe des Buches von Judes Vergangenheit.
Und hier kommen wir zu den Problemen des Romans:
Streckenweise wird der Spannungsbogen nämlich einzig und allein durch die häppchenweise dargebotenen Gewaltexzesse erzeugt, deren Opfer Jude als Kind werden musste. Fast wie ein düsterer Psychothriller wirkt seine Geschichte, als Leser•in fühlt man sich nahezu wie ein Voyeur, der auf die nächste Schaurigkeit wartet. Szenen körperlicher Züchtigung und jahrelangem sexuellen Missbrauchs werden ebenso detailliert und brutal geschildert wie die Momente, in denen Jude sich wie im Rausch immer wieder selbst verstümmelt, von einem sadistischen Entführer mit dem Auto überrollt wird oder von seinem Partner vergewaltigt und gefoltert wird. Zeitweise stellte sich mir die Frage, ob die Autorin ein Experiment mit Jude wagen wollte: Wieviel Gewalt kann ich einer Romanfigur auf knapp tausend Seiten antun?
Es ist ein Buch der überzeichneten Extreme – und damit auch der Unschlüssigkeiten.
Denn obwohl Jude jahrelang als Kind gefangengehalten wurde und kaum zur Schule ging, schafft er es nahezu beiläufig, zu studieren und perfekt Klavier zu spielen. Trotz all seiner Gewalterfahrungen, unbehandelten Traumata und ihren körperlichen und seelischen Spuren wird er ein angesehender Anwalt, der gefühlte 36 Stunden am Tag arbeitet und in einem luxuriösen New Yorker Loft wohnt. Sein späterer Lebensgefährte Willem ist berühmter Schauspieler und jettet permanent um die Welt. Sie pflegen einen Lifestyle, bei dem man spontan eine Party auf der Dachterrasse schmeißt und gute Freunde aus Madrid zu diesem Anlass einfliegen lässt. Das war mir streckenweise ein bisschen zu viel Beverly Hills 90210-Bling-Bling.
Wundervoll hingegen fand ich jedoch die Art und Weise, wie die bedingungslosen Freundschaften zwischen den vier Männern, Judes Adoptiveltern und Judes Arzt Andy geschildert wurden. Wieviele Hürden sie gemeinsam meistern, welche Tiefen sie im Laufe der Zeit durchmachen, dennoch immer füreinander da sind und in welchen Formen sich das Leid des einen auf alle anderen Beteiligten auswirken kann. Dabei wird ihre Geduld und ihre Liebe zueinander immer wieder schmerzvoll strapaziert.
Und grundsätzlich geht es in „Ein wenig Leben“ genau darum: Um Freundschaft. Um ein bedingungsloses Verbundenheitsgefühl unter Freuden, das sich in keinster Weise von dem Gefühl der Liebe unterscheidet. Leider versinkt diese Botschaft jedoch zu sehr in Überzeichnungen, Klischees und Längen.